Olga Zinoviev: Mein armes Deutschland

© Sputnik/ Wladimir Trefilov

Sputnik, 24.05.2015

Die Kovorsitzende des Sinowjew-Klubs Olga Zinoviev erläutert, wie Deutschland und ganz Europa von ihren amerikanischen „Partnern“ die Rolle des vasallischen „Bauern“ in der neuen globalen „Schachpartie“ aufgezwungen bekommen.

Sinowjew-Klub
Sinowjew-Klub

Mein liebes und armes Deutschland, dem gegenüber ich gar nicht gleichgültig bin und mit dem ich durch eine 40-jährige Freundschaft verbunden bin, die unter sehr schwierigen Umständen zustande gekommen war, musste in seiner Geschichte sehr viel durchleben. Deutschland darf stolz auf seine großen Philosophen, Musiker und Wissenschaftler sein und muss sich zugleich für die Verbrennung von Büchern, für die „Kristallnacht“ und all die Schrecken schämen, vor denen einst die ganze Menschheit zittern musste und immer noch zittern muss.

In der 1958 erschienen „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ von Golo Mann ist ein merkwürdiger und auf den ersten Blick paradoxer Gedanke enthalten: Deutschland habe keine natürlichen Grenzen. Für das Leben der Deutschen sei ihre geografische Lage zwischen den romanischen und slawischen Völkern viel wichtiger. Dank dieser geografischen Lage haben die Deutschen einen kulturellen Vorteil vor den Slawen.

Ist das etwa nicht der Grund, warum der „Drang nach Osten“ den Deutschen so nötig aus der Sicht der Zivilisation und sogar ihre geopolitische und kulturelle Mission zu sein schien?

Die aufdringliche Idee der eigenen Überlegenheit der deutschen Nation und der „kulturellen Expansion“ entstand immer wieder, wenn das Land eine neue Phase der eigenen Stärkung erreichte. Und natürlich begnügten sich die Deutschen nicht mit ihrer kulturellen Dominanz. Selbst wenn wir einmal rein theoretisch zulassen, dass Friedlichkeit der wichtigste Charakterzug der Deutschen war bzw. ist, musste das romantische und edle Deutschland angesichts der stetigen Aktivitäten der listigen Vertreter des Perfiden Albions in der internationalen Arena immer die Rolle des größten Aggressors der Welt spielen.

In der Tat entwickelte sich die deutsche Geschichte so, dass fast alle Ereignisse in Europa auf diese oder jene Weise mit Deutschland verbunden waren. Erwähnenswert ist beispielsweise das 20. Jahrhundert mit seinen riesigen Hoffnungen. Damals mussten die Adepten der Kultlegende über die Überlegenheit des deutschen Geistes und Deutschlands unwiderstehliche Kraft, die unter dem Einfluss der britischen Idee, in der ganzen Welt zu herrschen, zwei totale Niederlagen erleben und geschlagen in ihr zerstörtes Haus zurückkehren…

Großbritannien konnte schon immer die erste Großmacht Europas und der Welt sein, indem es seine größten Konkurrenten Deutschland und Russland miteinander streiten ließ. Deutschland löste die Weltkriege aus, als es glaubte, reif zu sein, Europa- und Weltherrscher zu werden, wurde dabei aber von den Briten manipuliert, die immer selbst die Führungsrolle spielen wollten. Richtig ist aber auch, dass Deutschland einen solchen Umgang mit sich nie zugelassen hätte, wenn es keine imperialen Ambitionen gehabt hätte, die sich auf seine Überzeugung von der eigenen Überlegenheit zurückführen ließen.

Dem deutschen Volk wurde immer die Rolle eines geopolitischen Polizisten in Bezug auf Europa und Russland aufgezwungen. (Das räumten beispielsweise die Deutschen Karl Marx und Friedrich Engels ein.) Allgemein bekannt ist dabei der gegenseitige Einfluss der deutschen und russischen Kultur auf Gebieten wie Sprache (die Autoren der ersten russischen Grammatik waren ja bekanntlich Deutsche!), Wissenschaft, Kunst, Diplomatie und Militärwesen. Mit ihren Händen, mit denen sie ja ackern, bauen, Musik komponieren und Romane scheiben hätten können, handelten die Deutschen stattdessen in fremden Interessen und lösten fremde Probleme.

Das vorige Jahrhundert war die Zeit eines beispiellosen Fortschritts und eines Endes der Geschichte, eine Zeit blutiger Kriege und riesiger Migrationswellen. Und überall – ob in historischer, politischer, geistiger oder wirtschaftlicher Hinsicht – ließ sich der deutsche Geist spüren. Manchmal zum Glück, oft zum Bedauern bewies er sich selbst, dass er seine eigene Mission hatte, die jegliche Mittel rechtfertigte, um das gestellte Ziel zu erreichen.

Als leicht indoktrinierbar und von der nationalen Idee erfasst hat das kriegerische und romantische deutsche Volk die Warnung seines weisen Kanzlers Bismarck, man sollte niemals Krieg gegen Russland führen, gleich zwei Mal ignoriert.

Jetzt scheint es sein historisches Fiasko zum dritten Mal zu erleben. Das passiert sicherlich nicht wegen der Vorliebe der Deutschen zum Masochismus. Das alles gab es schon: die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Nürnberger Prozesse, die gnadenlose Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die mein armes Deutschland erleben musste. Ich erinnere mich an die grausame Szene, die Richard von Schirach, der Sohn des während der Nürnberger Prozesse verurteilten Baldur von Schirach, in seinen Erinnerungen schilderte: Er wurde einmal noch als Kind von einem US-Offizier nach seiner Nationalität gefragt und antwortete, er sei Deutscher. „Gib mir deine Hand“, sagte der Amerikaner und drückte seine Zigarette auf Baldurs Hand aus. „Vergiss nie: Ihr seid Faschisten.“

Die massenhafte Geistesverwirrung eines solch fortgeschrittenen Landes wie Deutschland in den Momenten, in denen es gegen Russland, seinen einzigen Verbündeten, der Verständnis mit ihm hatte, aufgehetzt wurde, kann aber durch nichts gerechtfertigt werden.

Nicht zu vergessen ist das gewaltsame US-Protektorat in West-Deutschland, als alles, was mit der Lebensfähigkeit des bezwungenen Landes etwas zu tun hatte, von den Amerikanern diktiert und aufgezwungen wurde: Schul-Lehrbücher, die Gesetze, die Arbeitsnormen und auch die Kultur. Damals war den Deutschen so gut wie untersagt, zu sagen, dass sie Deutsche waren, geschweige denn stolz auf ihre Heimat zu sein. Mein armes Deutschland. Dieses Mitleidsgefühl verließ uns nie, wenn wir mit Hans-Magnus Enzensberger, der Kultfigur der deutschen Intellektuellen der 1970er-Jahre, oder mit dem Verleger Klaus Piper oder mit dem Filmregisseur Kurt Hoffmann oder mit dem Schriftsteller Horst Bienek oder mit dem alles über die Musik, Literatur und Geschichte wissenden Joachim Kaiser sprachen…

Es stirbt allmählich die Generation aus, die all diese Prüfungen erleben und die ganze Schuld für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs übernehmen musste, für den deutschen Militarismus und die Leidenschaft zur Eroberung von neuen Territorien.

Aber plötzlich entstehen mal hier mal dort neue Herde der Nazi-Pest, die, ohne während bzw. nach den Nürnberger Prozessen endgültig ausgerottet worden zu sein, in der Doktrin des Kalten Krieges und in besonderen Exilorten der Nazis irgendwo in Argentinien oder Chile oder auch im Innersten des britischen Geheimdienstes MI5 beherbergt worden war. Und jetzt brach diese Nazi-Pest in der ehemaligen DDR aus, deren Bevölkerung mehr als die der anderen sozialistischen Länder Ost- und Mitteleuropas von den kommunistischen Ideen geprägt worden war.

Deutschlands Wiedervereinigung im Jahre 1989 wurde landesweit mit Champagner gefeiert. Aber dann wandte sich die Situation plötzlich, und die „unterdrückten“ Ex-DDR-Bürger verwandelten sich über Nacht – natürlich inoffiziell – in die in ihrer historischen Heimat verachteten „Ossis“, denen auf der anderen Seite die stolzen und vollwertigen „Wessis“ gegenüberstanden.

Ähnlich entwickelt sich die Situation auch in der Ukraine, wo Vertreter eines Volkes plötzlich miteinander konfrontiert werden.

Diese plötzliche Metamorphose ist nicht spurlos verschwunden und hat im Bewusstsein und auch in der Verhaltensweise der „von der kommunistischen Unterdrückung befreiten“ DDR-Bürger tiefe Schrammen hinterlassen: Sie haben sich ja von gehorchenden sozialistischen Schafen in Revanchisten verwandelt, die jetzt ihr Land und ihre Geschichte mit Füßen treten.

Und es begann eine neue Runde: von der hohen deutschen klassischen Philosophie bis zu „Mein Kampf“, von der Revolutionspoesie Bertolt Brechts bis zum Horst-Wessel-Lied, der offiziellen NSDAP-Hymne.

Bei politisch korrekten Deutschen, die alle denk- und undenkbaren „Verbesserungsexekutionen“ erleben mussten und an die Worte der Nachkriegsverfassung heilig glaubten, wo ihre historische Schuld bis in die fünfte Vorfahren-Generation verankert war, ließ sich plötzlich unter dem Einfluss der politischen Umstände eine Bewusstseinsspaltung samt einer Entschädigungsgier beobachten – sie verlangten ja die historische Wahrheit und wollten plötzlich die Sache eines gewissen Adolfs zu einem logischen Ende führen.

Diese Ausbrüche eines unkontrollierbaren Revanchismus schienen am Anfang absolut unmöglich im antifaschistischen Deutschland zu sein. Sie wurden als eine Art Komplikation nach einer langen schweren Krankheit – als Folge einer zwangsläufigen Isolierung von der Heimat wahrgenommen. Aber die Entstehung von rechten Bewegungen, die sich in militarisierte Parteistaffeln verwandelten – das war schon zu viel für die gehorsamen Westdeutschen. Warum hat denn die in der DDR geborene Bundeskanzlerin Verständnis für die neuen Machthaber in der Ukraine – ist das etwa auch eine Art Nostalgie?! Wurde sie vielleicht deswegen in einer Bundestagssitzung von Gregor Gysi so scharf davor gewarnt und an die historischen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert?

Mein armes Deutschland wird offenbar wieder gegen Russland aufgehetzt und ungeniert zu immer neuen antirussischen Sanktionen aufgefordert. Und zu einem raffinierten Mittel, Russland auf die Nerven zu gehen, wurde

der Neonazismus des späten 20. Jahrhunderts, der unter Mitwirkung Washingtons auf die von einer antirussischen Hysterie erfasste Ukraine übertragen wurde. Es war ja sehr bequem für den Westen, den politischen „Atommüll“ dorthin auszuführen, dessen Lagerung in dem nervösen, exaltierten und wieder protestierenden Westeuropa zu gefährlich wäre.

Zudem versuchen gewisse Kräfte schon wieder, mit fremden – deutschen – Händen das ewig lebendige Russland abzuservieren.

Es stellt sich die logische Frage, wen das politisch korrekte Europa irgendwann dafür verantwortlich machen wird, dass die Ereignisse der letzten Zeit in der Ukraine überhaupt möglich geworden sind. Die Antwort ist leicht zu erraten: Deutschland und die USA. Aber Amerika liegt irgendwo weit weg, Deutschland aber ganz in der Nähe.

Mein armes Deutschland! Ich sage das ganz aufrichtig und ohne jeglichen Sarkasmus und habe Mitleid nicht nur mit Deutschland, sondern mit dem ganzen Europa, dem seine amerikanischen „Partner“ so frech die Rolle des vasallischen „Bauern“ in der neuen globalen „Schachpartie“ aufzwingen.