Die russisch-deutschen Beziehungen sind angespannt. Deutschland folgt dem von den USA vorgegebenen Sanktionsweg gegen die Russische Föderation. Ungeachtet dessen suchen Vertreter der Zivilgesellschaften beider Länder, die Beziehungen zu festigen und auszubauen. Olga Sinowjewa, Vorsitzende der Gesellschaft „Rußland – Deutschland“, berichtet über die Arbeit der Gesellschaft, das Leben der Sinowjews in der Emigration in Deutschland und die Wahrnehmung der Arbeiten Alexander Sinowjews in China.
Sie sind seit anderthalb Jahren Vorsitzende der Gesellschaft „Rußland – Deutschland“. Die anhaltenden Sanktionen verschärfen die Beziehungen beider Länder, der Informationskrieg spitzt sich zu, und wir beobachten eine rußlandfeindliche Hysterie in einigen Ländern der EU und in Übersee. Was tut Ihre Organisation angesichts der neuen Realitäten?
Auch unter den wenig vorteilhaftenBedingungen, da der Westen kollektiv versucht, Rußland zu isolieren und in allem anzuklagen, da Hemmnisse für die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands aufgebaut werden, bleibt die Mission unserer bürgergesellschaftlichen Organisation unverändert: Das Vertrauen zwischen den Völkern durch persönliche Begegnungen zu festigen, Teilnahme an gemeinsamen Aktionen und Treffen.
Die Tür unseres Hauses, die Herzen unserer Bürger sind für unsere Partner offen, für diejenigen, die ohne Angst zum gegenseitigen Verständnis beitragen wollen, für diejenigen, die nicht wollen, daß die „Ostpolitik“ der visionären Gründungsväter Brandt, Gentscher, Schmidt, Schröder, die die solide Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit und zur Schaffung gegenseitig vorteilhafter Handelsbeziehungen war, zu Staub zerfällt.
Aus diesem Grunde haben wir, der Stellvertretende Vorsitzende unserer Gesellschaft Dr. Michail Logwinow, der lange Zeit in den Botschaften unseres Landes in Bonn und Berlin sowie im Generalkonsulat in München gearbeitet hat, und ich, alles getan, damit die in den vergangenen Jahren gebauten Wege der engen Partnerschaft und guten Beziehungen mit Bayern nicht vereisen.
Wir haben auf alle Anfragen unserer Freunde reagiert und an allen Veranstaltungen, die die Teilnahme der russischen Seite erforderten, teilgenommen.
Im April 2017 fand im Maximilianeum, dem Sitz des Bayrischen Parlaments, die Konferenz„Bayern und Rußland – wie weiter?“ statt. Anwesend waren viele Politiker, Diplomaten, Journalisten und Studierende, das Interesse an und die Resonanz auf diese vom Ost-West-Wirtschaftsforum und dessen Vorsitzenden Eberhard Sinner organisierte Konferenz waren insgesamt groß.
Im Oktober 2017 trafen sich im Münchener Kulturzentrum Einstein neben Vertretern aus Kultur und Gesellschaft beider Länder Schüler und Lehrer von Partnerschulen in Rußland und Deutschland zum 1. Treffen „Jugend kommuniziert“. Alle konnten sehen, wie leicht und unkompliziert die junge Generation sich miteinander austauscht, wir konnten beobachten, daß die Jugend die Notwendigkeit einer aufrichtigen Kommunikation sieht.
Diese Veranstaltung wurde ausführlich von der deutschen Presse, im Radio und Fernsehen beleuchtet. Sie wurde ermöglicht durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatskanzlei, dem Staatsminister für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen sowie dem Ministerium für Kultur, Bildung, Wissenschaft und Kunst und fand unter der Schirmherrschaft des Generalkonsulats der Russischen Föderation in München statt.
Unsere Delegation war beeindruckt von allem, was sie gesehen und gehört hat. Wir haben unseren deutschen Kollegen sofort angeboten, eine Folgekonferenz bei uns in Moskau durchzuführen.
Im vergangenen Jahr haben die Mitglieder des Präsidiums der Gesellschaft und ihre Aktiven – Politiker, Diplomaten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler, Dozenten, Geschäftsleute, junge Führungspersönlichkeiten – ungeachtet der Krise aktiv an ähnlichen Veranstaltungen des Deutsch-Russischen Forums sowie an gesellschaftlichen und Jugendforen teilgenommen.
Unsere Gesellschaft schließt kreative junge Menschen ein, die sehr interessante, nichtstandardisierte Projekte verfolgen und dabei modernste Informationstechnologien nutzen Erst vor kurzem wurde das große Projekt einer Gruppe junger Journalisten zur Schaffung eines virtuellen Museums „Rußland – Deutschland: gegenseitige Durchdringung der Kulturen“ betrachtet. Es wird vom russischen Außenministerium, der Handelskammer Rußlands und vom Direktor der Sankt-Petersburger Ermitage Michail Piotrowski unterstützt, wie es auch der kürzlich verstorbene langgediente Diplomat und ehemalige Botschafter in der Bundesrepublik Valentin Falin beworben hat.
Wir hoffen, daß wir das Projekt in gemeinsamer Anstrengung und mit Sponsorenunterstützung unserer beider Länder realisieren können.
Gesellschaften, wie die Ihre, bezeichnet die moderne Politologie als Inseln eines erneuerten Verständnisses von „Soft Power“. Doch was können derlei zivilgesellschaftliche Organisationen tun, um das internationale Klima zu verbessern?
Im November 2017 habe ich in Berlin am 16. Petersburger Dialog teilgenommen. Das Hauptthema unserer Arbeitsgruppe war „Gesellschaftliche Teilhabe als Weg zum gegenseitigen Verständnis zwischen Rußland und Deutschland“.
Ich war überrascht, daß in einigen Beiträgen der Gedanke geäußert wurde, der Petersburger Dialog sei beinahe die einzige Plattform für einen offenen Dialog zwischen den Bürgergesellschaften unserer Länder. Jedoch, als der Dialog auf höchster Ebene für einige Zeit unterbrochen war, wurden die Fäden bei der Suche nach Wegen zur Wiederherstellung des Vertrauens und der Zusammenarbeit an Dutzendenanderen Plätzen – in den Partnerschaften von Städten, Schulen, Universitäten – nicht zerrissen. Die „Volksdiplomatie“ beider Länder setzte ihre offenen und ehrlichen Gespräche in einer schwierigen Zeit unbeirrt fort.
In Deutschland und Rußland leben viele Menschen, die die russisch-deutschen Beziehungen verbessern wollen, die die Atmosphäre der Spannungen, des Mißtrauens und der Feindseligkeit durch eine Atmosphäre des Wohlwollens und des Respekts gegenübe den Positionen des jeweils anderen ersetzen.
Denn schließlich: Für jeden vernünftig denkenden Menschen sind die endlosen Sanktionen gegenüber unserer Heimat „Unsinn“, wie die Deutschen sagen, und „teuer“, wie die Russen sagen. Umgerechnet 3,2 Millionen Dollar monatlich kosten sie Europa, der deutsche Export ist um 727 Millionen Dollar zurückgegangen, Deutschland hat 42 000 Arbeitsplätze aufgrund der Sanktionen verloren. Aber wem nützt das?
Der deutsche Ko-Vorsitzende des Petersburger Dialogs Ronald Pofalla stellte in seinem Beitrag fest: „Es ist kein Unwetter, das plötzlich vergeht.“ Aber es gibt Organisationen, wie die unsere, deren Ziel es ist, die dunklen Wolken zu zerstreuen, damit die Sonne der guten Nachbarschaft und des Friedens wieder scheint. Wir sind Vermittler, wir sind das Glied zwischen den Eliten und den einfachen Menschen der Bürgergesellschaft.
Um das Feuer des Vertrauens nicht verlöschen zu lassen, muß man ständig neue Nahrung nachlegen. Und das ist der Weg, den kleine, aber konkrete Initiativen gehen, die Ergebnisse zeigen es. Den Menschen guten Willens kann niemand verbieten, gute Projekte beispielsweise auf dem grenzenlosen Feld der Kultur gemeinsam zu organisieren.
Unsere Organisation wurde in der Zeit des Übergangs – vom auch im Laufe der Perestroika nicht stattgefundenen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zum oligarchischen Kapitalismus – wiederbelebt. Früher haben die Mitglieder des Verbandes der sowjetischen Freundschaftsgesellschaften staatliche finanzielle Unterstützung erhalten, wir hatten ein Dach über dem Kopf in einem Haus im Zentrum Moskaus am Kalinin-Prospekt. Doch im Jahre 2004 wurden wir rücksichtslos auf die Straße gesetzt, als das Auge des damaligen Premierministers Michail Kassjanow, heute ein zorniger Oppositioneller und Vorsitzender der Partei PARNASS, auf das berühmte Kaufmannshaus Morosow fiel.
Heute ist es das Empfangshaus der Regierung der Russischen Föderation. Heute kämpfen wir um unser Überleben, ohne irgendwelche Hilfe von Regierungsbehörden zu erhalten. Selbst die teilweise finanzielle Beteiligung unserer ausländischen Freunde an gemeinsamen Aktivitäten in Rußland ist heute inakzeptabel. Vor dem Hintergrund der jüngsten Direktiven kann uns sofort das Etikett eines „ausländischen Agenten“ angehängt werden. Dennoch lebt die Internationale Gesellschaft „Rußland – Deutschland“, ja, sie kämpft mit vielen Schwierigkeiten, doch arbeitet sie für das Wohl des Heimatlandes.
Mit Ihrem Mann, dem berühmten Denker der Moderne Alexander Sinowjew, haben Sie mehr als 20 Jahre in der Emigration in Bayern gelebt. Was haben Sie aus den Beziehungen zu den Deutschen gezogen?
Deutsche sind für das Schicksal unserer Familie ein integraler Teil, wie auch die russischen Landsleute. Es ist nicht ganz einfach, das in wenige Sätze zu fassen. Im weit zurückliegenden Jahr 1978, als wir aus der UdSSR ausgewiesen worden waren, haben wie die berührende Sorge und Aufmerksamkeit Dutzender, uns zuvor unbekannter Menschen gespürt. Ohne diesen unvergeßlichen und positiven Erfahrungsreichtum kann man sich die 21 Jahre unseres Lebens außerhalb Rußlands nur sehr schwer vorstellen. Es war ein unschätzbares Freundschaftsgeschenk, es war der Wunsch zu helfen, es war der Wunsch nach gegenseitigem Verständnis nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern auch auf der Ebene der erlebten und erfüllten Geschichte zweier Völker und zweier Länder.
Als wir München 1999 verlassen haben, war dies genauso schwer wie 1978, als wir Moskau verließen, nur daß es heute leicht ist, einen Flug in die Hauptstadt Bayerns zu buchen, und es für unsere Freunde unkompliziert ist, zu uns nach Moskau zu kommen.
Unser Schicksal haben damals Menschen geteilt, die weit über Bayern bekannt sind. Zu nennen sind unter vielen anderen Klaus Piper, Hans-Magnus Enzensberger, Kurt Hoffmann, Klaus und Natalia von Schirach, Heinz-Friedrich und Christa Schulze-Rohr, Joachim Kaiser, Horst Bienek, Nikolaus von Lobkowitz, Fritz Pleitgen, Ota Filip, Karl Weixner, Ursula Ziegler, Nelly Albrecht und Siegfried Reuter.
Diese deutschen Intellektuellen – Politiker, Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens, Musiker, Dichter, Schriftsteller, Herausgeber, Journalisten – wurden vom Enzyklopädisten und Rebellen Alexander Sinowjew angezogen. Ein „Mensch wie ein Orchester“ im buchstäblichen Sinne: Logiker, Schriftsteller, Philosoph, Soziologe, Maler, Dichter, religiöser Denker und Pädagoge, der sich als „souveräner Staat in einer Person“ vorstellte: „Ich bin für mich selbst ein Staat“, ist eine seiner markanten Aussagen.
Sinowjew verblüffte alle mit seiner Liebenswürdigkeit, Aufrichtigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, seinem Respekt und seinen Appellen „Denken Sie!“ und „Bewegt etwas mit dem Kopf!“ Ungeachtet von Ideologien und politischen Überzeugungen brachten die unteilbare europäische Kultur und Zivilisation die Menschen zusammen, ob es sich um das Theater, die Geschichte, die Literatur, die Musik oder die Wissenschaft handelte.
Für uns war es interessant, über die Besonderheiten des russischen und des deutschen Expressionismus, über Wagner- Inszenierungen in Bayreuth, über die Kreuzübersetzungen russischer und deutscher Schriftsteller, über Philosophie, den Krieg, über vergessene Namen im internationalen Film und Theater, über den Fall der Berliner Mauer zu sprechen.
Und es gab zwei weitere außergewöhnliche Menschen, über die ich gesondert erzählen will. 1982 kam ein Anruf aus der Schweiz: „Herr Sinowjew, ich hörte von Ihren Büchern von einem mir bekannten General … Sie haben am Himmel über Europa gekämpft, ich auch. Ich möchte Sie kennenlernen.“
Und so trat Dr. Hans Guido Mutke in unser Leben. Mit einem kräftigen Handschlag und gegenseitiger Sympathie auf den ersten Blick begann eine Männerfreundschaft zwischen Luftwaffenveteranen – dem sowjetischen Hauptmann der Reserve und dem Reserveoffizier der Bundeswehr.
Mutke war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein 18-jähriger Medizinstudent an der Berliner Charité. Auf Befehl des Führers mußte er die Militäruniform eines Luftwaffensoldaten anziehen und absolvierte die Nachtjägerschule. Er flog die Nachtjäger von Dornier und Messerschmidt. Ab 1943 flog er die „Wunderwaffe“ der Deutschen, den luftstrahlgetriebenen Jäger von Messerschmidt.
Die Staffel, in der Mutke diente, war in Holland stationiert. Aber mit der Entfaltung der zweiten Front wurde sie in Luftkämpfen gegen die Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition eingesetzt, in den Ardennen und über Österreich. Viele Luftfahrtexperten glauben, daß es Mutke am 9. April 1945 über Innsbruck gelang, zur Rettung seiner von den Briten angegriffenen Kameraden die Schallmauer zu durchbrechen.
Am 25. April 1945, als Berlin vollständig von der Roten Armee eingeschlossen war, flog Mutke mit seiner Me-262 vom Flugplatz Düsseldorf nach Dübendorf in der Schweiz. Seinen Jäger kann man heute im Deutschen Museum in München sehen.
Mit dem neuen Gast, der schnell zu unserem Freund wurde, hatte Sinowjew viel zu besprechen. Denn seinen Militärdienst begann Alexander als 19-jähriger im Fernen Osten in einer Kavalleriedivision. Darauf wurde er in ein Panzerregiment versetzt. Am Vorabend des Krieges begann er die Ausbildung in der Flugschule. Zunächst flog er Doppeldecker. Dann lernte er gründlich das Fliegen mit dem berühmten Jäger IL-2, der allgemein als „fliegender Panzer“ bekannt wurde. Er kämpfte in Polen und Deutschland, absolvierte insgesamt 31 Kampfflüge. Von einem kehrte er mit 30 Einschußlöchern zurück. Sinowjew stieg furchtlos in den Himmel auf, den er liebte. Er meinte, daß man nur einmal sterben kann.
Es fiel mir auf, daß die Frontkämpfer nicht wirklich gern über den Krieg sprachen, lieber sprachen sie über Wege zur Erreichung des Friedens und über die Zukunft. Und es gab zahlreiche andere Themen. Nach dem Krieg arbeitete Mutke in der Schweiz als Pilot der Zivilluftfahrt, flog nach Chile, Argentinien. Dann kehrte er zu seinem Traum zurück. Studierte Medizin an zwei Schweizer Universitäten, wurde Gynäkologe. Er arbeitete in München, widmete sich dem Thema der künstlichen Befruchtung, erhielt mehrere Patente auf dem Feld der Flugund Weltraummedizin.
Es ist nur schade, daß Mutke nicht nach Moskau kommen konnte, er starb zwei Jahre vor Sinowjew.
Und dann ist da Frau Scheppler, an die ich mich immer erinnere, wenn ich meine älteste Tochter Polina sehe. 1978 war es für die damals 7-jährige sehr schwer, sie kam fast ohne Sprachkenntnisse in eine deutsche Grundschule. Ich kann kaum ermessen, wie wichtig die ständig ermutigenden Worte ihrer ersten Lehrerin waren. Ich war gerührt, als Frau Scheppler mich bat, in lateinischen Buchstaben Sätze auf Russisch wie „Polina, my tebja ljubim“ („Polina, wir lieben Dich“), „Ty – nascha podruga“ („Du bist unsere Freundin“) und „My tebja chotim pomotsch“ („Wir wollen dir helfen“) zu schreiben. Und die ganze Klasse wiederholte diese Ermutigungssätze zusammen mit der Lehrerin.
Das ist wertvoll für Menschen, die anfangen, eine andere, fremde Welt wahrzunehmen – mit Überraschungen, Mißverständnissen und sogar skeptischem Mißtrauen. Die Gebeleschule in München mit ihrem empfindsamen und sehr aufmerksamen Direktor Wiesbeck, ein Enthusiast zwangloser Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Lehrern, bewahren wir deshalb für immer in unserem Gedächtnis. Es war gerade wegen dieser menschlichen Großmütigkeit und dem angenehmen Umfeld für Polina, der Sympathie und dem erklärten Wunsch, der nichtdeutschen Schülerin bei der Eingliederung zu helfen, daß wir in München blieben, nicht nach Lausanne, näher zu unserem Verlag, zogen.
Alexander und ich verglichen die Systeme der mittleren und Hochschulbildung der UdSSR und der Bundesrepublik. Ein gewisser Primitivismus der deutschen Schulprogramme, nahe den US-amerikanischen Schablonen, sowie eine nicht objektive Beleuchtung vieler historischer Ereignisse stachen uns besonders ins Auge.
Wir hatten Fragen an den freien Geist der nunmehr bereits zweiten Nachkriegsgeneration. Selbst unsere Töchter haben nicht verstanden, warum in der Schule ständig die Schuldfrage des deutschen Volkes, die auch die neue Generation abzutragen hat, betrachtet wurde. Aber uns gefielen die Menschlichkeit, die Zugänglichkeit und die großzügige Haltung gegenüber Schülern und Studierenden im Vergleich zu dem, was wir heute in Rußland, ich betone Rußland und nicht in der Sowjetunion, sehen.
Die sowjetischen Dissidenten, die in den Westen gegangen sind, wurden zu glühenden Gegnern des Sowjetsystems und kompromißlosen Feinden der Sowjetmacht. Welche Position bezog Alexander Sinowjew nach der erzwungenen Auswanderung?
Sinowjew war nie Dissident. Schon in seinem ersten Interview auf deutschem Boden erklärte er: Ich bin Russe, ich will nichts Schlechtes für mein Land. Ich bin kein Opfer des Regimes. Das Regime ist mein Opfer. Ungeachtet der freundlichen Aufnahme und des Erfolges seiner 30 Bücher, die er in der Bundesrepublik geschrieben hat, fühlte er sich in der ausländischen Heimat als Fremder.
Sinowjew wurde kein westlicher Sowjetologe. Weder die Eurokommunisten noch die demokratische Opposition haben es geschafft, aus ihm einen Kämpfer gegen das „verhaßte Regime“ zu machen.
Sein Herangehen an die Wertung zahlreicher Phänomene der damaligen Zeit war stets gleich: Ich bin nicht dagegen und nicht dafür. Ich akzeptiere alles als Realität. Er sah wunde Punkte in der Entwicklung der eigenen Heimat und der Welt, er diagnostizierte Staaten wie Gesellschaften, er gliederte den sowjetischen Kommunismus und den antisowjetischen Antikommunismus auf. Er sagte offen, daß ihm weder die Macht in Moskau noch in westlichen Hauptstädten gefiel.
Als Michail Gorbatschow die Perestroika einleitete und die gesamte Elite in einen Zustand freudiger Erwartung geriet, führte Sinowjew einen neuen Begriff ein: Katastroika. Und als „Gorbi“ im Rahmen seines Staatsbesuchs in London das Grab von Karl Marx nicht besuchte, da betrachtete mein Mann dies als den Beginn der Epoche des nationalen Verrats. Er hatte Recht. Der Zerfall der Sowjetunion galt Sinowjew als Verrat, als sowjetische Konterrevolution.
Ein weiser Soziologe sagte Boris Jelzin – ein schlechter Politiker und zukünftiger russischer Präsident – im März 1990 in Paris in der Sendung „Apostroph“ des Fernsehsenders Antenne-2: „Ihnen und Gorbatschow spendet der Westen Beifall, weil Sie die Sowjetunion zerstört haben, und demjenigen, der beginnt, sie wieder zu stärken, wird Dreck in die Ohren gegossen.“ Und ganz Europa sah die Übertragung auf den Fernsehschirmen. Die Franzosen nannten den nach dem Kreml-Thron greifenden Jelzin „Tartarin von Tarascon“ (Titelfigur der Romane des französischen Literaten Alphonse Daudet – ein Aufschneider und Maulheld, Anm. d. Red.). Danach hat Jelzin nie wieder an Fernsehdebatten teilgenommen.
Die Welt hat den Beitrag Sinowjews für die Entwicklung der Philosophie und der Logik sehr hoch bewertet. Er ist der einzige russische Wissenschaftler, dem der Alexis de Tocqueville- Preis für herausragendes humanistisches Engagement und Einsatz für Freiheitsrechte verliehen wurde. Er erhielt die Auszeichnung zwei Jahre vor Karl Popper, den die russische Wissenschaftselite heute so sehr schätzt.
Sinowjew wurde zweimal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. 1999 wurde er von der Kurzliste gestrichen, er, der ein echter Konkurrent zu Günther Grass war, weil er die NATO-Bombardierung Jugoslawiens auf das schärfste verurteilte. Diese Barbarei veranlaßte ihn übrigens, in die Heimat zurückzukehren.
Das kommunistische System war zerstört worden, und Sinowjew widmete sich ganz der Erforschung der westlichen Welt und der westlichen Gesellschaft, die versuchten, Rußland in ein Chaos zu stürzen. Er hinterließ viele originelle Gedanken. Er sah voraus, daß das 21. Jahrhundert dem Aufbau einer globalen Hierarchie gewidmet sein wird, aber sah auch, daß der kollektive Westen nicht das erreichen wird, was er erreichen wollte.
Er sah die Zugfedern der Geschichte, die den meisten verborgen blieben. Wies auf die Gefahren des „monetären Totalitarismus“ hin, der sich die Staatsgewalt und die Wirtschaft der „totalitären Demokratie“ untergeordnet hatte. Schon in den 70er Jahren bezeichnete er den islamischen Radikalismus als gesetzmäßiges Ergebnis einer Zivilisation in der Sackgasse, die keine Perspektive hat.
Die Bücher von Alexander Sinowjew wurden in 28 Sprachen veröffentlicht und haben eine Auflage von mehr als drei Millionen Exemplaren erreicht. Auf allen Kontinenten beschäftigt man sich mit ihm. Vor zehn Jahren nannte man ihn einen Propheten, der von den eigenen Landsleuten nicht geschätzt wurde. Heute ist dem nicht mehr so. Es gibt den Sinowjew-Klub der Intellektuellen, den Sinowjew-Klub MIA „Rußland heute“ und analoge Klubs in vielen Ländern der Welt, das Biographie-Institut Alexander Sinowjew und Sinowjew-Lesungen unter Teilnahme herausragender Zeitgenossen aus der ganzen Welt. Wie erklären Sie das Interesse an seinen Arbeiten vor allem in China?
Es gibt eine bekannte Sinowjew-Aussage: „Sie zielten auf den Kommunismus und gerieten nach Rußland.“ Als visionärer Denker forderte er, aus den Fehlern zu lernen und eine neue Ideologie zu entwickeln, die von ihrer Breite und Fundamentalität der sowjetischen Version des Kommunismus nicht nachstehen würde, die stimmig wäre mit der neuen Zeit und den Anforderungen, eine angemessene Antwort auf die globalen Herausforderungen des Westens zu geben. Die USA betrachten die Volksrepublik China als größte Bedrohung ihrer globalen Hegemonie und als Rivalen in der Wirtschaft. China sucht bei Sinowjew ein Zukunftsmodell für die Gesellschaft und neue Ideen. Das Projekt „Der russische Konfuzius“ ist eine starke intellektuelle Brücke zwischen China und Rußland, zwischen zwei großen Zivilisationen. China sieht, daß die Falken der unipolaren Welt jetzt auf den Sozialismus der chinesischen Besonderheit zielen. Die chinesische Gesellschaft – 1,5 Milliarden Menschen – will die geopolitische Tragödie der Sowjetunion vermeiden und der Konfrontation mit den USA standhalten.
Mit Olga Sinowjewa, Vorsitzende der Gesellschaft „Rußland – Deutschland“, sprach für „Wostok“ Oleg Poljakow in Moskau