Die intellektuelle Situation einer gegebenen Gesellschaft läßt sich anhand vieler Faktoren charakterisieren, etwa anhand der höchsten Errungenschaften auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst, anhand des Bildungswesens, der Rolle der Wissenschaft und anderem. Einen wesentlichen Stellenwert unter diesen Faktoren nimmt das ein, was ich Massenintellekt nennen würde. Letzterer ist das Gesamtergebnis der Wirkung aller übrigen Faktoren. Er tritt eben als Massenphänomen zutage — in den Gedanken, Worten und Werken von Millionen Menschen in allen Bereichen und Schichten der Gesellschaft.
Wenn man in einer Gesellschaft beispielsweise von der Möglichkeit spricht, die Zeit zu beschleunigen oder zu verlangsamen oder auch die Zeit zurückzudrehen, so ist das nicht nur die Folge hochentwickelter theoretischer Er-kenrttnisfähigkeit und großer schöpferischer Aktivität, sondern ebenso eine Folge des Sittenverfalls auf dem Gebiet der Wissenschaft, der logischen Unbildung. Sensationslust und unverhohlenen Schwindelei.
Am bezeichnendsten für den Zustand des Massenintellekts einer Gesellschaft ist wohl der Zustand ihrer Sprache.
Als ich noch Student war, fand in Moskau eine Sonnenfinsternis statt. Obwohl sie nicht lange dauerte, trugen sich innerhalb dieser Zeiten schwerwiegende Ereignisse an unserem Institut zu. Ein Assistent am Lehrstuhl für wissenschaftlichen Kommunismus verführte eine Studentin des ersten Studienjahres. Der Lehrerin für deutsche Sprache wurde ihre Tasche mit dem Geld gestohlen. Auf die Tür des Dekanats schrieb jemand Schimpf worte. Aus der medizinischen Fakultät, die neben unserer Fakultät lag, stahl man eine Hand und steckte sie in die Aktentasche des Dozenten für Kritik an der reaktionären westeuropäischen Philosophie. Kurz, es geschah einiges, in dessen Folge die Fakultät eine allgemeine Hörer- und Dozentenversammlung ansetzen mußte.
Auf dieser Versammlung hielt ein Sekretär des Parteibüros eine weitschweifige Rede. „Die sowjetischen Werktätigen”, sagte er — nein, er sagte es nicht nur, sondern brüllte es in den Raum, „haben unter dem Banner Lenins und der Führerschaft des genialen Steuermanns der Menschheit, des Generalissimus Genossen Jossif Wissarjonowitsch Stalin, wohlorganisiert und mit hohem Verantwortungsbewußtsein eine planmäßige Sonnenfinsternis durchgeführt. Im Lichte dieser Sonnenfinsternis jedoch traten einige dunkle Punkte in der Erziehung der heranwachsenden Generation zutage. In unserem gesunden Kollektiv zeigten sich etliche in moralisch-politischer Hinsicht labile Elemente, die… mißbrauchten…”
All das sagte der Redner mit vollem Ernst. Und kaum einer bemerkte, wie logisch absurd und komisch diese Rede war.
Als die persönliche Angelegenheit des unsittlichen Assistenten vom Lehrstuhl für wissenschaftlichen Kommunismus erörtert wurde, stellte sich zudem folgender, dessen Schuld zusätzlich erschwerender Umstand heraus: Er hatte nicht gewußt, daß in diesem Augenblick „eine so wichtige Angelegenheit im Land durchgeführt wurde” (so seine Worte). Und so wurde er gemäß der Parteilinie öffentlich dafür getadelt, daß er nicht die Zeitungen gelesen hatte. Andere Missetäter konnten nicht mehr aufgespürt werden. Man ging zum „Liberalismus” über, und die Aufdeckungsquote sank rapide ab.
Der Dozent, der für die Kritik an der reaktionären bourgeoisen Philosophie zuständig war, brü-stete’sich damit, daß man ihm eine Hand in die Aktenmappe gesteckt hatte, die für praktische Übungen der Medizinstudenten bestimmt war. Für ihn war es das größte Erlebnis seines Lebens.
In einem solchen sprachlichen Sumpf lebte damals das ganz Land—und nach den sowjetischen Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und Rundfunksendungen zu schließen, lebt es auch heute noch darin. Dieser Zustand wurde zum Normalzustand. Er fällt auch praktisch niemanden außer ein paar Satirikern auf.
Man muß allerdings sagen, daß sich die allgemeine Situation der Sprache im Westen von der sowjetischen lediglich dadurch unterscheidet, daß der Unsinn subtiler und die Hirngespinste anderer Art sind.
Aus dem demnächst erscheinenden Buch „Die Diktatur der Logik”, Verlag Piper, München-Zürich.