In Jugendtagen beschäftigten vor allem zwei Menschen meine Vorstellung: Jesus Christus und Karl Marx. Christus, weil er seinen Namen einer Religion gegeben hat. Marx den seinen einer Ideologie. Religion und Ideologie sind einander sehr ähnlich und nahe. Beide beanspruchen die Kontrolle über die menschliche Seele, der Menschen Herz und Gedanken.
Allein – sie sind Gegensätze: Ideologie ist antireligiös, Religion antiideologisch. Religion appelliert an den Glauben des Menschen, Ideologie an dessen Ratio. Das Prinzip der Religion lautet: Ich glaube, auch wenn es absurd ist. Das Prinzip der Ideologie: Ich akzeptiere, auch wenn ich nicht
glaube. Christus war der größte Religionsschöpfer, Marx der größte Begründer einer Ideologie.
Nicht sofort habe ich den Unterschied von Ideologie und Religion begriffen. Ebensowenig verstand ich sofort Marx als Ideologieschöpfer. Von Kindheit an wurde mir eingeschärft, Marxismus sei eine Wissenschaft, und zwar die höchste und weiseste, und Marx der größte aller auf Erden lebenden Gelehrten.
Dann verbrachte ich viele Jahre mit dem Studium der Wefke Marxens und kam zum Schluß, daß er als Wissenschafter eine völlige Null, als Gründer einer Ideologie hingegen ein großes Genie war. Zu dieser Zeit vermochte ich freilich schon zwischen Wissenschaft und Ideologie zu unterscheiden.
Mit dieser Feststellung will ich Marx ganz und gar nicht herab-, würdigen. Im übrigen halte ich Wissenschaft gar nicht für den Gipfel menschlicher Kultur. Ich unterscheide nur Wissenschaft und Ideologie als verschiedene Erscheinungen der Kultur. Allerdings stelle ich die Rolle der Ideologie in der menschlichen Geschichte bei weitem über jene der Wissenschaft.
Die marxistische Ideologie heute ist wenigstens mit drei Vorurteilen belastet. Das erste: Die sowjetische Gesellschaft sei nach dem Marx’schen Projekt gebaut.
sie wäre die Verwirklichung der marxistischen Ideale. Tatsächlich war hier nur reiner historischer Zufall im Spiel.
Die sowjetische Gesellschaft hat sich als Resultat absoluter Notwendigkeit für viele Millionen ergeben, unter den Bedingungen des völligen Zusammenbruchs des in Rußland herrschenden Sozialsystems zu überleben. Sie bildete sich als die natürliche und einzig mögliche Form der sozialen Organisation von Menschen als einheitliches Ganzes angesichts des vollständigen Bankrotts aller Elemente des vorangehenden Zi-vjilisationssystems. Sie kam als einfachste, notwendigste Gestalt sozialer Zivilisation zustande.
Es war durchaus möglich, in den Marx’schen Texten passende Ideen und Sätze zur Rechtfertigung und Bestärkung dieser Form von sozialer Selbsterhaltung zu finden.
Die Gegend, in der ich aufwuchs, kannte überhaupt keine Revolutionäre, und von Marxisten horten wir erst viele Jahre nach der Revolution. Und eben derselbe Typ von sozialer Organisation, der sich bei uns nach dem Zusammenbruch des Zarismus herausgebildet hat, ist bis auf den heutigen Tag ohne wesentliche Veränderung erhalten.
Die kommunistische Revolution hätte sich in Rußland auch ohne Marxismus vollzogen. Zu der russischen Kultur sind viele und verschiedenste Sätze ausgesagt worden, um jedem beliebigen Gang der Geschichte Rechtfertigung und ideologische Formulierungen zu liefern.
Vom rein phraseologischen Gesichtspunkt aus bot sich der Marxismus als äußerst günstig zur Schaffung einer Ideologie an, adäquat der in Rußland vollzogenen Revolution. Es gibt viele Gründe, warum sich gerade die marxistische Phraseologie als willkommen erwies. Einer besteht in der Tatsache, daß der Marxismus ein fremdes, nichtrussisches Element darstellt. Alles Fremde übt auf die zurückgebliebene russische Bevölkerung einen viel stärkeren Eindruck aus als bodenständige Ideen, wie gut auch immer sie sein mochten.
Das zweite Vorurteil betrifft die sogenannte „Voraussage“ Marxens über die künftige Gesellschaft. Ideologische Prognosen des Zukünftigen weichen insofern von wissenschaftlichen ab, als sie scheinbar in Erfüllung gehen, tatsächlich aber überhaupt nicht eintreten.
Ideologische Texte haben nicht für sich Sinn, nur in Verbindung mit einer bestimmten Interpretation. Die Auslegung kann so gestaltet sein, daß die Voraussage der Ideologie erfüllt scheint. Aber
sie kann auch so aussehen, daß sich die Prognose als falsch erweist.
Als Beispiel diene die „Voraussage“ des Marxismus, die Menschen würden unter dem Vollkommunismus nach ihren Fähigkeiten arbeiten und nach ihren Bedürfnissen entlohnt werden. Definiert man das menschliche Bedürfnis als beliebigen Wunsch des Individuums, dann erfüllt sich die „Voraussage“, des Marxismus niemals. Die menschlichen Bedürfnisse können praktisch nicht beschränkt bleiben, denn die Befriedigung dieser Bedürfnisse gebiert neue (das ist ein Wort Marxens selbst).
Viele Menschen wollen beispielsweise Führer von Partei und Staat werden, aber höchstens einer erhält die Chance, diesen Posten zu bekleiden. Was ist dann mit den anderen?
Wird aber „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ als Prinzip interpretiert, nach welchem die Bedürfnisse eines jeden Mitglieds der Gesellschaft durch die anderen Mitglieder des Kollektivs Gestalt gewinnen und reguliert werden, dann kann das betreffende Prinzip des Kommunismus als erfüllt angesehen werden:
Nach den allgemeinen Gesellschaftsnormen entspricht beispielsweise der Besitz von drei Quadratmetern Wohnfläche den Bedürfnissen eines Durchschnittsbürgers, abgesonderte Villen aber und Sommerhäuser in der Umgebung Moskaus und im Süden für die hohen Beamten des Zentralkomitees entsprechen den anerkannten Bedürfnissen dieser Staatsdiener.
Das dritte Vorurteil betrifft die Denkmethode der marxistischen Ideologie, die dem sowjetischen Menschen anerzogen werden soll. Als solche gilt die dialektische Methode. Allein dialektische Erkenntnismethode als Methode der Wissenschaft und als Methode der Ideologie sind zwei grundverschiedene Dinge, obwohl sie einander äußerlich ähneln.
Die dialektische Methode als Methode der Wissenschaft ist eine besondere Gesamtheit von logischen Regeln, die es erlauben, ein
kompliziertes Phänomen zu analysieren und in einer bestimmten Ordnung zu untersuchen — mit dem Ziel, eine Wissenschaftstheorie aufzustellen. Eine solche Theorie muß die Methode einer objektiven Beyertung der Ereignisse liefern wie die Möglichkeit, deren künftige Entwicklung vorauszusagen.
Dialektik als Methode der Ideologie ist etwas prinzipiell anderes. Sie ist eine „Umkehr der Gehirne“, durch die sich intellektuelle Gewandtheit bildet.
Dialektik als Methode des ideologischen Denkens ist Methode der sozialen Berechnungen in Beziehung zu anderen und die beste Methode, unter gegebenen Umständen angewendet zu werden. Deshalb lehnt sie Grundsätzlichkeit als Prinzip ab und erzieht die Menschen zu dem, was „Erfassen der konkreten Situation“ genannt wird.
Von dieser Warte aus betrachtet ist der Sowjetmensch, der sich Marxismus als Ideologie angeeignet hat, für darin unerfahrene Menschen ein in höchstem Maße gefährliches Wesen. Er, der Sowjetmensch, ist prinzipiell unverläßlich, fähig zu jeder Form des Verrates, indem er sein Verhalten an irgendwelchen höchsten Idealen und Vorstellungen rechtfertigt.
Selbst Marx, der die Utopie der kommunistischen Gesellschaft ausarbeitete, hatte nicht die geringste Vorstellung, was geschieht, wenn die reinsten und lichtesten Ideale der Menschheit Wirklichkeit werden. Die Sowjetunion hat bewiesen, was daraus in der Wirklichkeit wird.
Ich zweifle sehr daran, daß Marx auf seine Ideale verzichtet hätte, hätte er diese schreckliche Realität verausgesehen.. Für ihn besaßen gerade diese seine Ideale selbst genügenden Wert, nicht aber die Wirklichkeit, auf die sich alle seine Gedanken gerichtet haben. Ideologen interessiert bloß das Schicksal ihrer Ideen als Ideen, nicht aber das Leben, das ihre Ideen verkörpern.
Marx erhielt das, wonach er strebte: Unsterblichkeit als Ideologe. Wir aber haben das erhalten, was wir als Menschen verdienen, die an das Marx’sche Märchen geglaubt haben: die Hölle auf Erden – genannt Paradies.
Ubersetzung aus dem Russischen: Erhard M. Hutter