Der Aufstand der Jungen
Pro-EU-Lager demonstriert bei eisigem Wetter – neue Revolution in Kiew?
Wie schon 2004 bei der Orangen Revolution geht auch jetzt wieder die Jugend auf die Straße.
Kiew. Wer das Sternenbanner der Europäischen Union als Symbol der Hoffnung geschwenkt sehen will, muss derzeit wohl bis in die Ukraine fahren. Im Zentrum von Kiew, auf dem Europaplatz, demonstrieren derzeit täglich Tausende mit den blau-gelben Fahnen der EU und der Ukraine gegen den Kurs der Regierung, das Assoziierungsabkommen mit Brüssel auf Eis zu legen. Auch eiskaltes Wetter hat die prowestlichen Demonstranten – die Opposition sprach von rund 100.000, die Polizei von 20.000 Menschen – am Sonntag nicht davon abgehalten, für eine Wendung des Landes Richtung Europa einzutreten. Die Proteste setzten sich am Montag fort. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas einsetzte. Oppositionspolitiker Vitali Klitschko rief zum Dauerprotest auf. Auch in anderen Städten wurde demonstriert.
Die Wut weiter Teile der Bevölkerung auf die Regierung von Präsident Wiktor Janukowitsch und die von ihr am vergangenen Donnerstag eingeleitete Wendung Richtung Russland ist riesengroß. „Wir wollen in einem Rechtsstaat leben, nicht in einem Bandenstaat“, sagte eine Demonstrantin in Kiew der „Wiener Zeitung“. Es sind vor allem die Jungen, besser Ausgebildeten, für die die EU eine Zukunftshoffnung darstellt.
„Homo sovieticus“
Und das nicht ohne Grund, denn auch 22 Jahre nach der Unabhängigkeit hält sich der „Homo sovieticus“ am Dnipro, wie der Dnjepr auf Ukrainisch heißt, mit gewisser Beständigkeit. Dieser vom russischen Dissidenten Alexander Sinowjew beschriebene Menschentyp gilt im Kern als Opportunist. Er lässt sich von seiner Führung alles gefallen und übernimmt so wenig Verantwortung wie möglich. Er verrichtet Dienst nach Vorschrift, ohne Eigeninitiative. Vor allem aber pflegt er ein kreatives Verhältnis zum Eigentum. Das Stehlen von „Volkseigentum“ galt in der Sowjetunion bei vielen als Kavaliersdelikt. Und auch heute hat sich, wie Investoren aus dem Ausland bestätigen, noch keine sichere Eigentumsordnung im Land etabliert – die wiederum Basis einer sicheren Rechtsordnung, eines Rechtsstaates werden könnte. Immer wieder kommt es zu fragwürdigen Enteignungen, Korruption ist allgegenwärtig. Beobachter verweisen außerdem darauf, dass ein großer Teil des ukrainischen Führungspersonals in Wirtschaft und Politik noch in der Sowjetunion sozialisiert wurde – auch die inhaftierte Julia Timoschenko. Diese trat am Montag aus Protest gegen die Abkehr der Regierung vom West-Kurs in einen unbefristeten Hungerstreik.
Beziehungen statt Regeln
Die Oppositionschefin stieg in den 1980ern im kommunistischen Jugendverband Komsomol auf, ehe sie mit Videokassetten handelte und es dann mittels undurchsichtiger Geschäfte zur steinreichen „Gasprinzessin“ der Ukraine brachte. Es sind vor allem die jungen, urbanen Bewohner, die des Gefühls, ohne Regeln zu leben, überall auf Beziehungen angewiesen zu sein, überdrüssig sind und sich nach geordneten Verhältnissen sehnen – Verhältnissen, mit denen am Dnipro vor allem die Europäische Union assoziiert wird. Insofern dürfte Timoschenko den Demonstranten aus der Seele gesprochen haben, als sie am Sonntag an ihre Anhänger schrieb, das Abkommen mit der EU „st unser Fahrplan für ein normales Leben. Das ist unser Quantensprung heraus aus einer zutiefst wilden Diktatur in ein zivilisiertes Leben.“
Wie dieser Quantensprung gelingen soll, darüber herrscht allerdings auch innerhalb der Opposition keine Einigkeit. Einig sind sich die drei Parteien im Oppositionsbündnis nur über die grundsätzlich prowestliche Ausrichtung ihrer Politik und darüber, dass sie in Präsident Wiktor Janukowitsch über einen gemeinsamen Feind verfügen – den es Anfang 2015 bei den Präsidentenwahlen zu schlagen gilt. Ansonsten ist das Bündnis von Timoschenkos Vaterlandspartei, Klitschkos „Udar“ („Schlag“) und der rechtspopulistischen „Swoboda“ (Freiheit) von Oleh Tjahnybok eher ein Notbündnis: „Vaterland“ lebt vom Image der inhaftierten Timoschenko, deren Wirtschaftspolitik als sprunghaft und wenig durchdacht gilt. Klitschko, der über nicht unerhebliche Geldquellen verfügt, soll von Oligarchen gesponsert werden. Und Tjahnyboks „Freiheit“ besteht darin, alle strategischen Unternehmen in Staatseigentum zu überführen – und Importprodukte durch Güter aus ukrainischer Produktion zu ersetzen. Wie sich das mit dem Assoziierungsabkommen verträgt, das eine Freihandelszone schaffen würde, bleibt schleierhaft.
Gerüchte über neue Wende
Noch ist aber auch unklar, ob der Zug Richtung Brüssel für die Ukraine überhaupt schon abgefahren ist. Schließlich ist nichts passiert, seit Kiew am Donnerstag verkündet hat, die Vorbereitungsarbeiten am Abkommen mit Brüssel zu „suspendieren“. Die Tage verstrichen, ohne dass ein ukrainisch-russisches Abkommen präsentiert worden ist. In Kiew wird deshalb darüber spekuliert, Janukowitsch wolle mit seinem Hin und Her zwischen Russland und der EU bis zum letzten Moment versuchen, alle seine Ziele zu erreichen: den Vertrag mit der EU, einen neuen Kredit vom Internationalen Währungsfonds, Garantien gegenüber Russland und keine Änderungen im Fall Timoschenko. Derart trickreich ist er bisher aber nicht aufgetreten. In einer TV-Ansprache am Montagabend erklärte er, sein Land sei weiter den europäischen Werten verpflichtet. Die Abkehr von der EU sei eine schwierige und von wirtschaftlichen Zwängen getriebene Entscheidung gewesen.