Henry Kissinger: Gorbatschow wird mächtiger als Stalin (1988)

Katastroika : Gorbatschows Potemkinsche Dörfer. Alexander Sinowjew. Mit e. Beitr. von Henry Kissinger. [Aus d. Russ. von Erich Hiller]. - Frankfurt/M.; Berlin: Ullstein, 1988

Katastroika : Gorbatschows Potemkinsche Dörfer. Alexander Sinowjew. Mit e. Beitr. von Henry Kissinger. [Aus d. Russ. von Erich Hiller]. – Frankfurt/M.; Berlin: Ullstein, 1988

 

Henry Kissinger

Gorbatschow wird mächtiger als Stalin

 

Politische Umbrüche ereignen sich in Moskau mit der Plötz­lichkeit von Gewittern. Dann erhellt ein Lichtblitz eine oft dü­stere Landschaft.

Doch die Bedeutung der illuminierten Figuren ist auch dann nicht ohne weiteres ersichtlich.

Der Betrachter muß Bekanntes von Neuem trennen, und er muß versuchen, die wahre Bedeutung des Neuen zu erfassen.

Die Geschwindigkeit und die Befriedigung, mit der nahezu alle Staatsmänner des Westens Gorbatschows Übernahme der Präsidentschaft begrüßt haben, reflektiert das Ausmaß, bis zu dem der sowjetische Führer die Demokratien hypnotisiert hat.

Die allgemeine Annahme schien zu sein, daß alles, was Gorbatschows Position stärkt, der Sache des Friedens dient. Für mich indes scheint allerdings die plausiblere Lektion der Kremlmanöver zu sein, daß kein Außenstehender befähigt ist, die obskuren Ränkespiele zu entwirren, die zu Machtverlage­rungen im Politbüro führen – geschweige denn, daß er sie be­einflussen könnte.

Jede Politik, die auf einer einzelnen sowjetischen Persönlich­keit gründet, ist auf Sand gebaut. Die Ost-West-Politik muß auf die fundamentalen Realitäten sowie auf die nationalen Zwecke und Interessen gegründet sein.

In gewisser Hinsicht ist das, was sich in Moskau ereignet hat, ein vertrauter Vorgang. Von Stalin bis Breschnew hat noch je­der Generalsekretär der Kommunistischen Partei seine Herr­schaft damit begonnen, daß er jene Männer ausschaltete, die ihn an die Macht gebracht haben.

Trotz drei Jahren Glasnost haben sich weder Geheimhaltung und handstreichartiges Vorgehen geändert noch die Brutalität, mit der die Verlierer von der Bühne geschoben wurden. Auch nach 70 Jahren Machtausübung hat das sowjetische System noch immer keine Methode der rechtmäßigen Nachfolge auf oberster Ebene entwickelt.

Jeder Generalsekretär – ganz gleich wie sein Programm aus­sieht — beginnt seine Amtszeit, indem er versucht, die Bande zwischen dem verabschiedeten Herrscher und seinen Gefolgs­leuten zu zerstören.

Neu an Gorbatschows Umbildung ist, daß er sich auf ein Programm der Veränderung eingelassen hat, das ihn augenschein­lich sogar an der Loyalität seiner eigenen Gefolgschaft zweifeln läßt. Deshalb scheint er eine Regierungsstruktur anzustreben, die ihn grundsätzlich sogar noch von jenen ungenügenden Me­chanismen der Machtbalance unabhängig macht, die in einer kommunistischen Gesellschaft gerade eben vorhanden sind.

Und Gorbatschow hat dafür in der Tat gute Gründe. Seine bedeutendste Erkenntnis besteht darin, daß die sowjetische Gesellschaft, wenn sie weiterhin so verwaltet wird wie in den vergangenen 70 Jahren, dazu verurteilt ist, auch bis zum näch­sten Jahrhundert nicht mehr zu werden als das entwickeltste unter den unterentwickelten Ländern.

Katastroika : Gorbatschows Potemkinsche Dörfer. Alexander Sinowjew. Mit e. Beitr. von Henry Kissinger. [Aus d. Russ. von Erich Hiller]. – Frankfurt/M.; Berlin: Ullstein, 1988
Eine Überfülle von Kommissionen, Ministerien und Gre­mien spielt in der UdSSR die Rolle, die in der kapitalistischen Gesellschaft dem Markt zukommt. Dieses bürokratische Laby­rinth entzieht sich jeglicher rationalen Kontrolle, ja sogar je­dem Überblick. Die Kommunistische Partei allerdings fühlt sich in diesem Irrgarten wohl, denn dessen Beeinflussung ist ihre wesentliche Daseinsberechtigung. Daher das Paradox: Ein moderner Staat kann durch sowjetische Zentralplanung nicht verwaltet werden —aber ohne ein System von Zentralplanung wird die Kommunistische Partei irrelevant. Jeder Versuch, die Wirtschaft zu reformieren, muß sich deshalb gegen das Eigen­interesse und die tiefverwurzelten Vorrechte der gleichen

Gruppe richten, die in einer kommunistischen Gesellschaft Le­gitimität verleiht.

Daher das zweite Paradox: Wenn Gorbatschow die Gesell­schaft reformieren will, dann muß er jenes Instrument schwä­chen, von dem er seine Macht herleitet.

In dieser Situation hat Gorbatschow sich eine geniale Formel einfallen lassen, um das Schicksal Chruschtschows zu vermei­den, des letzten sowjetischen Reformers, der 1964 stürzte, als er anfing, an der Struktur der Partei herumzubasteln.

Gorbatschow hat das bis heute weithin zeremonielle Amt des Präsidenten übernommen – so wie es vor ihm Breschnew tat -, aber er hat vorgeschlagen, daß es mit bis heute beispiellosen Exekutivbefugnissen ausgestattet wird, annähernd denen eines amerikanischen Präsidenten. Sollte er diese Ideen erfolgreich zu einem logischen Ende bringen, dann wird Gorbatschow eine Machtkonzentration erreicht haben, die selbst jene übersteigt, die Stalin zu Gebote stand.

Die Frage lautet folglich, bis zu welchem Ausmaß der Westen seine Politik nach den vermuteten Tugenden eines so mächti­gen und attraktiven sowjetischen Führers ausrichten sollte. Wenn ausschließlich Gorbatschow den Frieden bringen kann, dann folgt daraus, daß es keine objektive Basis für Frieden gibt – eine prekäre Situation.

Meine Ansicht ist, daß sich die westliche Politik im größt­möglichen Ausmaß davon freimachen sollte, sich auf eine ein­zelne Persönlichkeit zu verlassen. Denn die Bewährung der Ost-West-Beziehung ist die sowjetische Außenpolitik, nicht die Innenpolitik, und deshalb muß der Westen ein substantielles Eigenprogramm haben, das weiter reicht als der Slogan »Gorbatschow helfen«.

Tatsache ist, daß sich alle verzwickten Manöver der verschie­denen Machtwechsel im Kreml bis heute stets auf die Vertei­lung der Macht bezogen haben, nicht jedoch auf den Zweck, zu dem sie eingesetzt werden soll.

Der schmerzhafte Übergang von einer stalinistischen Gesellschaft zu einer Marktwirtschaft hat noch nicht einmal begon­nen. Preisreform ist ein wesentlicher Bestandteil davon, doch bis jetzt bleibt sie nur ein Slogan.

Da in der Sowjetunion alle Preise künstlich sind, weiß niemand wirklich, was Kosten sind.

Doch Preisreform bedeutet die Zurücknahme von Subventionen, und dies wiederum bewirkt eine beträchtliche Preisstei­gerung sowie den Verlust von Arbeitsplatzsicherheit, weil in­effiziente Unternehmen bankrott gehen.

Daher können die Kreml-Konservativen sicher sein, daß sie in die Arena zurückkehren werden, um sich als die Verteidiger der öffentlichen Interessen gegen Inflation und Arbeitslosig­keit darzustellen – insbesondere deshalb, da viele von ihnen immer noch im Politbüro sind.

Ähnliche Zweischneidigkeiten bedrohen andere Aspekte der Perestroika. Zum Beispiel:

  • Für das Dilemma sowjetischer Zentralisierung gibt es immer noch kein konkretes Programm. Zentralisation garantiert Stagnation, doch Dezentralisierung birgt das Risiko des Auflebens von Nationalismus in den unterschiedlichen Republiken, die das sowjetische Imperium umfaßt.
  • Die Regierungsstruktur, wie Gorbatschow sie anstrebt, nimmt sich in der Theorie möglicherweise eindrucksvoller aus als in der Praxis. Ein sowjetischer Generalsekretär ist gesalbt als die Inkarnation historischer Gesetzmäßigkeit. Ein amerika­nischer Präsident hat die Sanktion einer Volksabstimmung. Der neue sowjetische Präsident ist weder gesalbt noch tatsäch­lich gewählt von irgendeiner auch nur im entferntesten reprä­sentativen Körperschaft. Kraft welcher Legitimierung übt er seine Macht aus?

Was Glasnost betrifft, so ist noch längst nicht klar, ob es sich dabei um einen Selbstzweck handelt oder um ein Mittel, mit dem Gorbatschow persönliche Macht erlangen will. Auf dem

Weg zu seinem Aufstieg hat Gorbatschow einige Äußerungen öffentlicher Unzufriedenheit ermutigt – speziell unter Mos­kauer Intellektuellen -, um Druck auf eine träge Bürokratie auszuüben. Doch dies wird nicht notwendigerweise das Strick­muster bleiben, sobald Gorbatschows persönliche Macht erst einmal konsolidiert ist. Wie so viele Reformer, so mag auch Gorbatschow glauben, daß alle rationalen Menschen zu densel­ben Schlußfolgerungen kommen werden. Doch wie so viele Reformer vor ihm, so wird auch er enttäuscht werden durch die Perversität der menschlichen Natur. Ehe er diese Nagelprobe nicht bestanden hat, ist es töricht und gefährlich, die Demokra­tisierung der Sowjetunion zu feiern.

Wenn aber Perestroika und Glasnost keine automatischen Lösungen für die Probleme der Koexistenz darstellen, dann be­steht um so mehr Grund, die sowjetische Außenpolitik mit Vorsicht zu bewerten.

Bei all ihrer gemäßigten, gar sentimentalen Rhetorik ist die sowjetische Außenpolitik dreist darauf gerichtet, Amerikas Einfluß in Eurasien zu reduzieren sowie Europa, speziell die Bundesrepublik, von den USA abzukoppeln. Es könnte sich herausstellen, daß Gorbatschow in der Außenpolitik eher ein Taktiker als ein Stratege ist. Japan und China sind vom Westen her immun gegen sentimentale Appelle, wie sie in Europa wirksam sind. Sie bestehen darauf, in geopolitischer Münze be­zahlt zu werden. Das heißt, in einer Verbesserung ihrer strate­gischen Position.

Mehr Erfolg hat Gorbatschows psychologische Offensive in Europa gehabt, speziell in der Bundesrepublik. Die Frage in­des ist: Welche Wirkung wird sich ergeben? Das natürliche Betätigungsfeld für eine autonomere westdeutsche Politik ist das östliche Europa, wodurch die historische Rivalität zwischen Teutonen und Slaven wiederauflebt. Überdies sind die Rheto­rik von Glasnost, das Dilemma von Perestroika sowie der mög­liche Rückzug sowjetischer Tfuppen aus Zentraleuropa als Bestandteil der Rüstungskontrolle allesamt dazu angetan, in Hu ropa stärkere zentrifugale Tendenzen zu ermutigen als innerhalb der Atlantischen Allianz.

Am Ende mag es die Stabilität von Osteuropa sein, die zur Debatte steht. Was Gorbatschow bislang erreicht hat, ist weni­ger die Desintegration der Atlantischen Allianz als die Wiederaufnahme des Themas der politischen Zukunft des östlichen Europa.

Logischerweise sollte sich eine vernünftige Gelegenheit ergeben, eine tatsächliche Entspannung auszuhandeln. Die UdSSR sieht sich nicht nur innenpolitischen Problemen gegen­über, sondern auch der außenpolitischen Realität, daß die mei­sten neuen Machtzentren – Europa, Japan, Indien – an oder nahe ihrer Grenzen liegen. Eine aggressive Politik könnte alle diese Nationen gegen die Sowjetunion vereinen.

Der modische Slogan, daß der Westen Gorbatschow helfen sollte: Er ist hohl und eine Absage an jede Politik zugleich. Kein sowjetischer Führer ist je ehrenvoll zurückgetreten, noch hat sein Ansehen seinen Tod überlebt. Warum sollten die Staatsmänner des Westens erwarten, daß Gorbatschow sie mit mehr Mitgefühl behandelt als seine einstigen Kollegen, denen er seine Position verdankt?

Kurzum, das Ziel westlicher Politik darf nicht darin beste­hen, irgendeinem sowjetischen Führer in den mysteriösen Machtkämpfen des Kremls zu helfen, sondern ihre Energien darauf zu verwenden, ein gemeinsames Programm zu entwikkeln.       .

Westliche Politik ist nur fest gegründet, wenn sie sich auf fundamentale Prinzipien und Interessen gründet. Ein Westen, der sich an einen sowjetischen Führer bindet, paralysiert sich sel­ber, und dies angesichts von Veränderungen, die er nicht beein­flussen, vielleicht nicht einmal verstehen kann.